Richard David Precht: "Die Digitalisierung ist kein Allheilmittel."
Herr Precht, Sie haben vor drei Jahren das Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott: Der Verrat des Bildungssystems an unseren Kindern" veröffentlicht. Darin setzen Sie sich mit dem Bildungssystem auseinander und fordern eine Bildungsreform. Hat die Digitalisierung Auswirkungen auf ihre Thesen?
Die Digitalisierung kann, wenn man sie richtig einsetzt, zum Gelingen besserer Schulen beitragen. Aber sie ist kein Allheilmittel. Man kann durch digitale Medien einiges in der Schule verbessern. Ihr falscher Einsatz kann aber auch viel verschlechtern.
Braucht es dafür eine Form der digitalen Verantwortung von Seiten der Lehrerschaft, vielleicht sogar von den Schülern selbst?
Darunter kann ich mir wenig vorstellen. Ich kann aber ein Beispiel geben, wie durch digitale Medien die Schulen verbessert werden könnte. Nehmen Sie den Mathematik-Unterricht: Mathe ist das größte Hassfach, das es an Schulen gibt. Die meisten Schüler, die das Klassenziel nicht erreichen, schaffen es wegen Mathe nicht. Gleichzeitig sind Mathematiklehrer diejenigen mit den meisten Burnouts und den häufigsten Frühpensionierungen. Daraus kann ich nur schließen, dass der Mathe-Unterricht, so wie wir ihn gegenwärtig betreiben, nicht funktioniert.
Warum ist das so?
Weil spätestens in der Mittelstufe die besten Schüler in der Klasse eigentlich schon besser sind als der Lehrer. Wäre der Lehrer tatsächlich so begabt in Mathematik, wäre er wahrscheinlich nicht Lehrer geworden, sondern würde am Max-Planck-Institut arbeiten. Wogegen die schlechten Schüler in der Klasse, also das untere Drittel, überhaupt nichts mehr kapiert. Der Lehrer muss aber für alle den gleichen Unterricht machen, die gleichen Klausuren vorbereiten und sie nach dem gleichen Notensystem bewerten. Das ist natürlich Schwachsinn, denn die Unteren werden ein Leben lang Mathe hassen und sich irgendwie durchschummeln. Die Oberen werden nicht richtig gefördert. Wenn wir mathematische Kompetenz fördern wollen, dann sollten wir aufhören, nach dem sechsten Schuljahr Mathe in Klassen zu unterrichten. Es gibt mittlerweile sehr viele schöne Lernprogramme. Dort bekommen Kinder Aufgaben gestellt, tanken sich quasi durch einen Parcours und müssen irgendwann ein gewisses Pflichtlevel geschafft haben. Wenn man wahnsinnig gut ist, schafft man nicht nur sein ganzes Pflichtlevel, sondern kann online sein ganzes Mathestudium schon in der Schule machen.
Ihre Idee ist also, einen digitalen Matheparcours zu entwickeln, der Leistungsniveaus abbildet und mit dem sich Schüler auch zuhause Wissen aneignen können?
Das gibt es ja bereits. Zum Teil auf sehr spielerische Art und Weise. Da kommt etwa ein Nobelpreisträger, der erklärt und beispielsweise sagt: "Ja, jetzt hast du aber einen Fehler gemacht, das war naheliegend. Dann löse doch mal diese Aufgabe." Wenn ein Kind das dann trotzdem so nicht schafft, wird der ehemalige Mathelehrer zum Mathenachhilfelehrer, der sich daneben setzt und hilft.
Der Lehrer wird also zum Lernbegleiter, der die Kinder dort abholt, wo sie gerade stehen?
Ja. Im Bildungssystem ist viel von individualisiertem Lernen die Rede. Das ist aber häufig ein Schlagwort. Das hier wäre aber ein Beispiel, wie man individualisiertes Lernen ganz konkret in etwas Realistisches überführt.
Das Interview führte Thomas Schmidt auf dem DSLK 2016 .
Gemeinsam gegen (Cyber-)Mobbing: Unterstützungsangebote für Betroffene
Neuer SCROLLER zum Thema Desinformation!
Comenius EduMedia Award 2024
Prämierung von Teachtoday und SCROLLER mit dem Comenius-EduMedia-Siegel