Dass jeder mitmachen kann, ist kein Garant für Demokratie
Teachtoday sprach mit ihm über die Rolle der Digitalisierung bei der Demokratieförderung und wie digitale Medien demokratische Prozesse verändert haben.
Ich nutze digitale Medien insbesondere zur Information über fachliche und politische Themen. Als Soziologe und Leiter der Fachgruppe „Politische Sozialisation und Demokratieförderung“ bin ich mit Fragen und Herausforderungen der Extremismusprävention, Demokratieförderung, politischen Bildung und politischen Sozialisation junger Menschen befasst.
Viele Fachzeitschriften sind mittlerweile auch online verfügbar, und digitale Newsletter anderer Institute und Organisationen sind aus meinem Alltag kaum noch wegzudenken. Auf meinem Twitter-Account poste ich Informationen über meine eigenen fachlichen Aktivitäten und informiere mich über diejenigen von Kolleginnen und Kollegen weltweit. Insgesamt nimmt die Dichte und Frequenz von Informationen stark zu, und es ist eine Herausforderung, das Wichtige vom Unwichtigen zu unterscheiden.
Was durch digitale Medien überhaupt nicht ersetzt werden kann: die sorgfältige Lektüre gedruckter Bücher und Zeitungen und die direkte Begegnung und Diskussion mit Menschen außerhalb digitaler Medien, ergo: offline. Meiner Ansicht nach braucht es viel mehr solcher Gelegenheiten: Literaturhäuser, Diskussions- und Lesezirkel, politische Veranstaltungen, Bürgerversammlungen, politische Sprechstunden.
Für mich stellt sich bei solchen Modebegriffen immer zuerst die Frage, ob sie etwas wirklich Neues bezeichnen. Wenn man Demokratie als eine Gesellschaftsform definiert, in der die Herrschaft durch das Volk und über repräsentative Regierungsformen ausgeübt wird und in der unterschiedliche Standpunkte zu Kompromissen geführt werden, dann können digitale Medien ein Hilfsmittel sein, um sich auszutauschen und zu informieren. Das kann etwa das Streaming von Parlamentsdebatten oder Parteitagen sein.
Eine digitale, direkte oder Basisdemokratie mit häufigen Volksabstimmungen, wie sie etwa Konzepte von „Liquid Democracy“ propagieren, bringt meiner Ansicht nach aber die Gefahr mit sich, Institutionen der repräsentativen Demokratie und des Parteienwesens zu beschädigen oder auszuhebeln. Demokratie beruht auf vielfältigen, teils langwierigen Prozessen der Vermittlung unterschiedlicher Interessen, etwa in Parlamenten, Ausschüssen und Kommissionen. Ich bin skeptisch gegenüber allem, was suggeriert, dass diese Vermittlungsprozesse überflüssig wären oder digital „leichter“ zu haben sind.
Ja, habe ich, und zwar Online-Petitionen unterzeichnet. Dazu veranlasst hat mich das Herzblut für die jeweilige Sache, aber vielleicht auch eine gewisse Bequemlichkeit. Online-Petitionen können sicherlich eine sinnvolle und niedrigschwellige Vorstufe politischer Betätigung sein und eine Instanz der Rückkopplung zwischen Politik und Wählerschaft darstellen. Gleichzeitig wird auch hier tendenziell eine schnelle Wirksamkeit suggeriert, die aber nicht zu haben ist. Wenn Online-Petitionen ein längerfristiges Engagement in Parteien, Nichtregierungsorganisationen oder Sozialen Bewegungen ersetzen, finde ich das äußerst fragwürdig.
Grundlegend lassen sich in repräsentativen Demokratien bestimmte Kerne dieser Gesellschaftsform identifizieren: freie und geheime Wahlen, Parlamentsdebatten und -entscheidungen, die Kontrolle von Exekutive und Legislative durch eine unabhängige Jurisdiktion, Ortsverbände von Parteien usw. Digitale Medien können hier ein Hilfsmittel sein, zu vermitteln und zu informieren. Gleichzeitig setzen Parteien verstärkt auf die Nutzung von sozialen Netzwerken, um Mitglieder und Wähler zu erreichen.
Hochspannend finde ich, wie insbesondere Jugendliche digitale Medien nutzen, etwa, wenn man sich die Bewegung gegen die EU-Urheberrechtsreform, „Fridays for Future“ oder die vermehrte politische Aktivität sogenannter „Influencer“ anschaut. Im Bereich sozialer Bewegungen verändern digitale Medien die Aktivitäten und Organisationsformen grundlegend.
Dass „jeder mitmachen kann“, ist noch kein Garant für Demokratie. Man muss hier differenzieren, insbesondere nach Inhalten, aber z.B. auch nach Länderkontexten. Schaut man sich etwa die verschiedenen Bewegungen im Kontext des „Arabischen Frühlings“ an, waren und sind Soziale Netzwerke ein wesentliches Medium, um Zensur zu umgehen, sich zu organisieren, über staatliche Willkür und die Gewalt von Sicherheitskräften zu informieren. Hier dient das Internet demokratischen, emanzipatorischen Bewegungen, ebenso wie beispielsweise derzeit in Hongkong.
Gleichzeitig bespielen aber autoritäre Bewegungen, Rechtsradikale oder Islamisten die Sozialen Netzwerke mit großer Professionalität und hoher Resonanz. Das Internet ist also nicht per se demokratisch oder an Wahrheit orientiert, sondern ist - genau wie die analoge Welt - auch ein Schauplatz der Auseinandersetzung zwischen totalitären Regierungen und Bewegungen und liberalen, demokratischen Gesellschaften und Akteuren.
Meiner Ansicht nach braucht es zunächst einmal eine grundlegende politische Sozialisation und eine gute schulische politische Bildung. Elternhaus und Schule sind maßgeblich dafür verantwortlich, junge Menschen zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern zu erziehen, die zum selbstständigen Vernunftgebrauch auch in politischen Fragen fähig sind. Wenn das gelingt, braucht es im Idealfall gar keine spezifische Radikalisierungsprävention, weil sie dann selbst in der Lage sind, Angebote extremistischer Akteure online wie offline zu entlarven.
Dort, wo das nicht gelingt, gibt es mittlerweile vielfältige Online-Prävention, etwa netzbasierte Aufklärung über Strategien extremistischer Akteure. Auch Online-Angebote, die gefährdete oder bereits involvierte Jugendliche direkt im Netz adressieren und beraten, werden entwickelt.
Meiner Ansicht nach befördern und verstärken soziale Netzwerke etwas, was auch schon vor dem Internet existiert hat, etwa mit den schon sprichwörtlichen Stammtischen und ihren Parolen. Unter bestimmten Bedingungen neigen Menschen dazu, sich in Filterblasen und Echokammern zurückzuziehen, in denen sie überwiegend Gleichgesinnte und Menschen desselben sozialen Status treffen. Algorithmen von Suchmaschinen, Streamingportalen oder Sozialen Netzwerken können das strukturell verstärken.
Hier ist einerseits wiederum die Mündigkeit des Nutzers gefragt, sich seine Informationen und Denkanstöße aus unterschiedlichen Medien mit unterschiedlicher Ausrichtung zu holen und kritisch zu beurteilen. Andererseits braucht es meiner Ansicht nach dringend wieder verstärkt Offline-Gelegenheiten, wo die Menschen mit anderen Ansichten und Lebensrealitäten konfrontiert werden, und sich diesen nicht einfach durch einen Klick wieder entziehen können, sondern sie aushalten und anerkennen müssen.
Wie der Begriff „Medium“ bereits sagt, handelt es sich bei digitalen Medien um Mittel zu einem bestimmten Zweck. Mir wird derzeit zu viel über die Mittel, zu wenig über den Zweck geredet. Wenn der Zweck der Erhalt und die Stärkung einer demokratischen Öffentlichkeit, einer liberalen Gesellschaft und ihrer demokratischen Verfahren, Akteure und Institutionen sowie ihres rechtlichen Rahmens ist, muss sich Demokratieförderung - ob sie nun offline oder online stattfindet - genau die Stärkung dieser Elemente und der darauf gerichteten politischen Sozialisation ihrer Bürgerinnen und Bürger auf die Fahnen schreiben.
Eine Herausforderung sehe ich im Umgang mit beleidigenden, hasserfüllten und akut bedrohenden Postings oder Shitstorms in sozialen Netzwerken oder Online-Kommentarspalten. Demokratieförderung und Prävention können hier beispielsweise Akteure oder Betroffene vernetzen, Online-Beratung zum Umgang mit Hate Speech anbieten oder Gegenaktivitäten koordinieren - hier gibt es mittlerweile vielfältige Angebote, die aber durchaus noch gestärkt werden können.
Gleichzeitig muss Demokratieförderung durch konsequente Strafverfolgung im digitalen Raum ergänzt werden, denn auch der rechtsstaatliche Schutz der Meinungsfreiheit und der öffentlichen Räume (online wie offline) ist ein wichtiger Aspekt.
Die Fragen stellte Martin Daßinnies.