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Massen-Onlinespiele besitzen eine große Sogwirkung

Lesezeit: Minuten
Daniel Jäger setzt sich als Fachreferent für Medienverhalten kritisch mit der Mediennutzung junger Menschen, vor allem in Bezug auf Handy- oder Computerspielsucht, auseinander.
Teachtoday sprach mit dem Psychologen über die Einordnung von Suchtformen und die Wirkungsweisen digitaler Spielewelten.
Herr Jäger, spielen Sie selbst gern Computerspiele?

Rollenspiele wie die „Gothic“ oder „Dragon Age“-Reihe faszinieren mich. Diese funktionieren wie ein Spielfilm, in dem man selbst Regie führt und gleichzeitig die Hauptrolle einnimmt. Diese großen Welten mit ihren fantastischen Möglichkeiten und Abenteuern finde ich unheimlich spannend und investiere auch heute noch gerne Zeit - wenn die Kinder im Bett sind.

Immer häufiger liest man von Computer-, Internet-, oder Spielesucht. Gibt es diese Suchtformen überhaupt?

Diese Begriffe wurden bis vor einigen Jahren in Ermangelung einer klaren Definition oft synonym verwendet. Seit Juni 2018 ist die Computerspiel-Sucht („gaming disorder“) offiziell von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Krankheit anerkannt und gleichwohl als eigenständige Diagnose in das Klassifikationsstatut ICD-11 aufgenommen. Es handelt sich genau genommen um eine nicht-substanzgebundene Verhaltensabhängigkeit, welche sogar nach on- und offline Verhalten differenziert.

Es handelt sich also um eine echte psychische Erkrankung?

Ja, es handelt sich um eine nicht-substanzgebundene Suchterkrankung: eine Verhaltenssucht, welche die bisherige Palette wie bspw. Glücksspiel, Kaufsucht oder Kleptomanie um das komplette Verhaltensspektrum im virtuellen Raum erweitert. Kurzum: Ein Mediennutzungsverhalten mit Krankheitswert, bei dem die Symptome einer psychischen Abhängigkeit mit einem zugehörigen Leidensdruck erlebt werden. Die Betroffenen wissen, dass sie etwas tun, was ihnen eigentlich nicht guttut, sind aber nicht in der Lage, das Verhalten zu regulieren oder zu kontrollieren.

Neben der „gaming disorder“ können nunmehr auch der pathologische Konsum von SocialMedia, Streamingdiensten, Onlinekaufhäusern sowie Onlinepornografie erfasst werden. Die Anerkennung war ein enorm wichtiger Schritt im Gesundheitswesen, damit Betroffene weltweit überhaupt einen Weg in etablierte Hilfesysteme finden können.

Es gibt viele Menschen, die kein ausgeprägtes Sucht- oder Konsumverhalten entwickeln, obwohl sie häufig Computerspiele spielen. Woran liegt das?

Jugendliche und junge Erwachsene sind besonders anfällig für derlei Reize und Stimulation. Im Altersbereich von 14 bis 24 Jahren gibt es eine Häufung, das zeigt z.B. die aktuelle Studie "Prävalenz der Internetabhängigkeit – Diagnostik und Risikoprofile" deutlich. In dieser speziellen Entwicklungsphase wachsen zwar mit zunehmenden Freiheitsgraden die Möglichkeiten, man muss aber gleichzeitig viele Entscheidungen für und gegen etwas treffen. Das kann mitunter eine Überforderung darstellen.

Die Studie zeigt auch, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen, wie ADHS, Autismus, Depression oder Ängsten, gehäuft suchtähnliches Medienverhalten entwickeln. Computerspiele werden für manche Nutzer zu wichtigen Rückzugsorten, zu kontrollierbaren Schutzräumen. In einem Multiplayer-Onlinespiel kann man sich gezielt Anerkennung und ein Gefühl der Zugehörigkeit verschaffen, was zuhause oder in der Schule vielleicht nicht gelingt. Das Lebensalter, die grundsätzliche Lebenssituation und die seelische Verfassung haben folglich großen Einfluss, inwieweit man ein Medienverhalten mit Suchtcharakteristika entwickelt. Das gilt selbstredend auch für klassische stoffgebundene Süchte, wie Alkohol und Drogen.

Computerspiele können also eine Form der Alltagsflucht sein?

Alltagsflucht kann positiv und negativ besetzt sein, denn jedem Verhalten liegt ein Bedürfnis zugrunde. Wenn sich ein Spieler beispielsweise bei World of Warcraft oder Battlefield einloggt, dann stehen dahinter stets kleine oder große Bedürfnisse, die im echten Leben zu kurz kommen oder nicht erfüllt werden.

Beim Computerspielen ist es möglich, mit verhältnismäßig wenig Einsatz eine große Wirkung mit kompensierendem Effekt zu erzeugen. Der Spieler kann per Knopfdruck eine umfassende Stimulation auf emotionaler, sozialer und körperlich erfahrbarer Ebene erreichen, ohne sich aus dem Stuhl erheben zu müssen oder das Zimmer zu verlassen.

Welche Spielprinzipien können ein Suchtverhalten fördern?

Massen-Onlinespiele, bei denen sich Millionen von Nutzern in eine Spielewelt einloggen und eine eigene Figur oder Welt gestalten können, besitzen eine gewaltige Anziehungskraft und Sogwirkung. Ob es sich dabei um ein Sport-, Simulations-, oder Rollenspiel handelt, ist völlig unerheblich. Zudem werden die Spielewelten ständig erweitert bzw. lassen sich die eigenen Avatare beliebig voranbringen. Diese Spiele besitzen kein Ende im klassischen Sinne mehr, was eine Regulation zusätzlich erschwert. Das ist der große Unterschied zu den Offline-Computerspielen, bei denen irgendwann der Abspann wie im Kino läuft.

Ein weiteres Prinzip können Belohnungs- oder Bestrafungssysteme sein, um Nutzer zum Spielen zu bewegen. Werden mir Punkte oder Ressourcen weggenommen, wenn ich nicht regelmäßig aktiv werde? Manche Items gibt es nur zu bestimmten Zeiten oder in Zeitfenstern zu finden. Die Tricks der Game-Entwickler sind mittlerweile sehr mächtig und treffen auf eine oft ahnungslose bzw. unreflektierte Nutzerschaar. Wer sich mehr dafür interessiert, dem lege ich den extrem aufschlussreichen Artikel „Computerspiele „Unser Spiel heißt Geld machen, und ihr seid darin nur eine Zahl“ (Tagesspiegel, 02.01.2019) ans Herz.

Welche Hinweise auf eine Sucht gibt es?

Das ist in erster Linie der Kontrollverlust. Man kann sich nicht mehr regulieren, nicht steuern, ob man spielt und wie lange. Das unwiderstehliche Verlangen nach dem Spielen wird besitzergreifend. Dazu kommt eine Toleranzentwicklung. Das heißt, ein Spieler muss immer länger und öfter im Spiel sein, um den gleichen Zustand der inneren Zufriedenheit zu erreichen. Negative Konsequenzen oder Begleiterscheinungen in anderen Lebensbereichen werden billigend in Kauf genommen.

Hinzu kommen Entzugserscheinung, wie Gereiztheit bei Verboten, Nervosität oder einschießende Gedanken. Ganz klare Warnsignale sind Verwahrlosungs- und Rückzugstendenzen wie bspw. Fehlzeiten in der Schule, im Betrieb oder in der Uni. Diese Aspekte erkennt man im Regelfall recht schnell und sollte sie auch zügig ins Gespräch bringen.

Wann wird das Spielen zwanghaft?

Zwanghaft ist der falsche Begriff, denn einem Zwang liegt immer eine spezifische Angst vor etwas zugrunde. Das ist bei der „gaming disorder“ nicht der Fall. Oft sind es sogar die sozialen Beziehungen, die viele Nutzer anziehen und langfristig binden. Viele erleben ihren Game-Clan, ihre Follower oder die What’s-App-Gruppe als eine Art „zweite Familie“. Grundsätzlich denke ich, dass in diesem neuen Störungsbild ein ursprünglich als sehr angenehm erlebtes Verhalten entgleitet und einen Suchtcharakter entwickelt. Die ständige Verfügbarkeit ist dabei die größte Herausforderung, sich zu regulieren und führt deshalb klassisch-pädagogische aber auch etablierte suchttherapeutische Ansätze an ihre Grenzen.

Was können Erwachsene tun, um vorzubeugen?

Häufig wird im familiären Rahmen bei ausuferndem Medienverhalten immer noch auf eine Reglementierung durch Bestrafung oder Zugangsbeschränkungen zurückgegriffen. Früher gab es Fernsehverbot, heute wird der Router ausgeschaltet oder der Laptop vor dem Zubettgehen kassiert. Das bringt erfahrungsgemäß nicht viel, denn Verbote schaffen langfristig nur mehr Anreize, eben diese zu umgehen. Der Klassiker in Elternabenden: „Wir haben den Router gesperrt, jetzt zockt unser Sohn bei seinem Kumpel, bei dem alles erlaubt ist …“.

Vielen Eltern fällt es schwer, zu verstehen, womit sich ihre Kinder in der digitalen Welt beschäftigen. Man sollte sich als Eltern fragen: „Warum machen das denn überhaupt so viele? Was ist denn daran so toll?“ Die Schlüssel zur Lösung sind a) ernsthafte Neugier, b) offenes Interesse und c) aktives Miteinander. Auf diese Weise kommt man gegenseitig ins Gespräch, gewinnt Einblicke und findet gleichzeitig einen persönlichen Bezug zur Welt der Spiele. So erzeugt man ein modellhaftes Setting für gemeinsame, prosoziale Spielerfahrungen, die als ganz normaler Bestandteil der Lebenswirklichkeit junger Menschen von allen wahrnehmbar wird. Es ist nicht verboten, sich am Abendbrottisch mit Papa über eine gelungene Siegstrategie bei Age of Empires auszutauschen und später gemeinsam gegen die KI oder einen ausgefuchsten Player aus Brasilien loszuziehen …

Zur Person: Daniel Jäger ist Diplom-Psychologe und Fachreferent im Fachdienst Medienverhalten im Annedore-Leber-Berufsbildungswerk Berlin. Er ist Entwickler und Trainer des Programms „ZOE – Zocken Ohne Ende!?“, welches sowohl in der Prävention als auch in der Frühintervention für junge Menschen eingesetzt wird, um ausufernden Medienkonsum rechtzeitig entgegenzuwirken. Zudem setzt er sich als Landeskoordinator des Netzwerks Medienabhängigkeit Berlin-Brandenburg für den aktiven Austausch von Fachkräften in der Versorgungslandschaft zum Thema Medienabhängigkeit ein.

Das Interview führten Steffi Weinert und Natascha Riebel.

Aktualisiert am 24.08.2023

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