Die Zeit im Klassenraum soll dafür stärker für die Praxis und die Wissensvertiefung genutzt werden. Was genau ist neu an diesem Konzept und wie wird es in der Praxis angewandt? Darüber sprach Teachtoday mit dem Pädagogen Sebastian Schmidt.
Flipped Classroom heißt ins Deutsche übersetzt umgedrehter Unterricht. Grob gesagt: Das, was man normalerweise im Unterricht macht, wird als Hausaufgabe vorab erledigt. Im Unterricht wird dann das gemacht, was normalerweise die größten Schwierigkeiten bereitet: Die Übung, die Vertiefung, der Transfer.
Man hat dadurch mehr Zeit, den Unterricht z. B. schülerzentriert und kommunikativ zu öffnen. Für die Vorbereitung auf den Unterricht bieten sich oftmals Erklärvideos zum Beispiel auf YouTube an. Wobei das bei weitem nicht die einzige Möglichkeit darstellt. Ich sehe beim Flipped Classroom nicht nur die Vorbereitung, sondern auch die Nachbereitung als essenziell an. Das was Schülerinnen und Schüler ganz leicht zu Hause machen können (kleine Einführung, Hefteintrag gestalten, kleine Aufgabe lösen, Alltag entdecken,) verlagere ich in die vorbereitende oder nachbereitende Hausaufgabe.
Was von den Schülerinnen und Schülern meist als schwierig empfunden wird, z. B. Übungen, die Vertiefung, sich durch etwas durchbeißen, intensive kooperative Auseinandersetzung, verlagere ich in den Unterricht, weil dort dann zahlreiche Helfer und vor allem ich unterstützen können.
Ich bin über das Erklärvideo zu diesem Konzept gekommen. Für den Alltag gibt es so viele Hacks, Tipps und Tricks auf YouTube, das musste doch irgendwie auch für den Unterricht eine Verbesserung darstellen. Kochen, Kinderwagen zusammenbauen, Pool aufbauen, Krawatte binden, … warum dann nicht auch endlich den Pythagoras verstehen? Ich habe dann selbst Videos erstellt und diese versucht, in den Unterricht einzusetzen. Es hat lange gedauert, bis ich das auch so geschafft habe, wie es pädagogisch und didaktisch sinnvoll erscheint. Vor allem habe ich gemerkt, dass es für gelingenden Unterricht mehr braucht, als nur ein Erklärvideo zur Vorbereitung. Erst später habe ich vom Konzept des Flipped Classroom erfahren.
Meine erste Klasse war skeptisch, was diese Art des Unterrichtens betrifft. Ich musste ihnen eine vierwöchige Probezeit versprechen. An deren Ende wollte aber keiner mehr zum alten System zurück. Seither ist es ein Selbstläufer, die meisten Schülerinnen und Schüler wollen nach diesem Konzept unterrichtet werden, auch wenn nicht alle dadurch eine bessere Note bekommen. Die Eigenverantwortung und Selbstständigkeit werden einerseits als tolle Möglichkeit wahrgenommen, nicht jeder kann aber diese gewonnene Freiheit auch nutzen. Vor allem schätzen die von mir auf diese Weise unterrichteten Klassen das Lernen mit und über neue Medien.
Der eigene Lehrer bei YouTube, WLAN im Klassenzimmer, immer wieder gibt es neue Möglichkeiten, das Lernen spannend, interessant und vor allem kompetent zu gestalten. Die Motivation ist auch ein Faktor, dieser Form des Arbeitens eine Chance zu geben. Ganz wichtig ist für die meisten auch die Verfügbarkeit: Den Lehrer und die Unterrichtsmaterialien gibt es so immer in der Hosentasche. Selbst beim zehnten Mal erklärt es Herr Schmidt immer noch freundlich.
Zu Beginn war es für mich komplettes Neuland und ich habe viele Fehler bei der Entwicklung dieses Konzepts gemacht. Genauso gehörte viel Überzeugungsarbeit bei Kollegen und Kolleginnen, Schulleitern, Eltern und natürlich den Schülerinnen und Schülern selbst dazu. Die eigene Unsicherheit gepaart mit kritischen Fragen lassen einen aber immer wieder reflektieren, wie etwas geht und was man sein lassen sollte. Das allein entwickelt den Unterricht auch schon weiter. Holt man alle Angesprochenen mit ins Boot und sieht sich als Team im Lernprozess, entwickelt sich daraus noch viel mehr und zeigt allen, dass lebenslanges Lernen im Team viel an Mehrwert bringt. Dennoch bleibt es eine Aufgabe. Ich glaube nicht, dass ich schon ein fertiges Lernkonzept habe, aber eines, das ganz gut funktioniert.
Zu weniger Freizeit führt es bei meinen Schülern und Schülerinnen nicht. Im Gegenteil: „Wir müssen jetzt zu Hause weniger tun und haben dafür mehr Zeit, unsere Arbeit im Unterricht zu machen.“, s o die Aussage einer Schülerin.
Das gilt natürlich in den Hauptfächern, bei denen es traditionell Hausaufgaben gibt. In anderen Fächern ist der Flipped Classroom vielleicht eher im inclass-flip umzusetzen. Das bedeutet: Einsatz digitaler (individueller) Materialien im Unterricht z. B. als Station in einem Lernzirkel. Aber auch ich setze in meinen Nebenfächern Videos oder vorbereitende Hinführungen ab und zu als Hausaufgabe ein. Dementsprechend kann man in meinen Augen Formen des Flipped Classroom in jedem Fach umsetzen.
Es geht darum, den Unterricht schülerzentriert zu öffnen. In jedem Fach zeigt ein Lehrer einmal etwas oder muss etwas anleiten. Das kann man auslagern, um mehr Zeit für andere Dinge zu haben oder damit sich die Schülerinnen und Schüler ein Themengebiet einfach so oft anschauen können, wie sie es brauchen.
Ich glaube, dass die Digitalisierung den Unterricht und die Schule verändern wird. Aber nicht dazu, dass alle nur noch vor Geräten sitzen und ihre Arbeit digital verrichten. Mit digitalen Lernmaterialien können wir zahlreiche neue Methoden anwenden, differenzierter unterrichten und vor allem unsere LEHR-Tätigkeit zu Gunsten einer COACH-Tätigkeit verändern. Dabei gilt es, bewährte pädagogische und didaktische Prinzipien beizubehalten, das Digitale als Erweiterung und nicht als gänzlichen Ersatz zu sehen.
Wer die Kids von heute abholen möchte, braucht etwas mehr als nur einen Overheadprojektor und ein Blatt Papier. Gleichzeitig gilt es aber vor allem, die Schülerinnen und Schüler zu Produzenten zu machen. Digitales Lernen entfaltet sich nicht durch digitale Unterrichtsmaterialien. Schülerinnen und Schüler selbst müssen lernen, sich mit den neuen Medien auseinanderzusetzen, um an der heutigen Welt teilzunehmen und um auf die Berufswelt von morgen vorbereitet zu sein. Daher wird unsere Aufgabe als Lehrer nicht obsolet, sie wird nur auf eine andere Weise wichtiger. Wer weiterhin frontal unterrichtet, kann irgendwann durch einen Roboter oder einen Algorithmus ersetzt werden. Wer sich aber als Lernbegleiter, als Unterstützer, als Coach, als Pädagoge an der Seite von jungen Menschen versteht, der kann mit Hilfe der digitalen Hilfsmittel seinen Unterricht nachhaltig gestalten und vor allem niemals ersetzt werden.
Die Fragen stellte Martin Daßinnies.
Projektidee: Lernen mit bewegten Bildern